Die im Folgenden skizzierten Qualitätskriterien sind aus einem gemeinsamen Reflexionsprozess der Lehrverständnisse der Mitglieder der AG Digitalisierung am Rauhen Haus entstanden und spiegeln ihren „gemeinsamen Nenner“ wider. Die Liste ist weder vollständig noch kann davon ausgegangen werden, dass jede:r Kolleg:in jeden Aspekt in der hier formulierten Form teilt. Die Qualitätskriterien sollen vielmehr im Sinne einer Heuristik dazu beitragen sicherzustellen, dass bei der Entwicklung von Strategien der Digitalisierung in den Lehrveranstaltungen der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie den Besonderheiten der Profession der Sozialen Arbeit ausreichend Rechnung getragen wird.
1. Theorie und Praxis
Die Verknüpfung von theoretischem Wissen und praktischen Anwendungsfeldern ist ein zentrales Element der Lehre in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit ist ein angewandtes Fach ist, das wissenschaftlich fundiertes Wissen direkt in die Praxis übersetzen muss. Studierende müssen lernen, theoretische Ansätze kritisch zu reflektieren, auf konkrete soziale Herausforderungen anzuwenden und anzupassen. Digitale Lehr-Lern-Settings müssen daher einerseits eine fundierte Vermittlung theoretischer Grundlagen ermöglichen und andererseits gleichzeitig praxisnahe Szenarien (z.B. in Form von Fallstudien und Simulationen) einbinden können, die die Verbindung zwischen Theorie und Praxis erfahrbar machen. E-Portfolios und Reflexionsaufgaben könnten z.B. die dokumentierte Auseinandersetzung mit Praxisprojekten fördern und die Rückkopplung von Praxiserfahrungen an theoretische Konzepte gewährleisten.
2. Wissenschaftlichkeit
Als Handlungswissenschaft basiert Soziale Arbeit auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen, die durch systematische Forschung und theoretische Überlegungen gewonnen wurden. In der Praxis der Sozialen Arbeit sind Fachkräfte immer wieder gefordert, komplexe Problemlagen zu analysieren, geeignete Interventionen zu planen und deren Wirksamkeit kritisch zu evaluieren. Dazu benötigen sie die Fähigkeit, wissenschaftliche Studien und Diskurse zu verstehen, kritisch zu hinterfragen und auf ihre Praxis zu übertragen. Digitale Settings müssen daher die wissenschaftliche Arbeitsweise fördern. Dies umfasst die Vermittlung von Methoden der Literaturrecherche, des Zitierens und der kritischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Texten aus verschiedenen Disziplinen. Lehrformate sollten Studierende befähigen, selbstständig wissenschaftlich zu arbeiten und unterstützende digitale Tools effizient und kritisch zu nutzen. Die kritische Auseinandersetzung mit digitalen und wissenschaftlichen Informationen sollte gezielt geschult werden.
3. Transdisziplinarität
Soziale Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme und bearbeitet komplexe Problemlagen, die nicht auf eine einzige Disziplin reduziert werden können. Professionelle Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit erfordert daher ein tiefes Verständnis interdisziplinärer und transdisziplinärer Zusammenhänge. Digitale Lehr-Lern-Settings sollten diesem Anspruch gerecht werden. Sie können z.B. Plattformen für interdisziplinären Austausch schaffen und Studierende an praxisorientierte, kollaborative Projekte heranführen, in denen auch Betroffene oder Expert*innen anderer Disziplinen einbezogen werden.
4. Gemeinsames Lernen
In der Sozialen Arbeit ist Kooperation eine Schlüsselkompetenz. Gemeinsames Lernen stärkt die Fähigkeit zur Teamarbeit, zum Perspektivenwechsel und zur Entwicklung gemeinsamer Lösungen, die im beruflichen Alltag unerlässlich sind. Die digitale Lehre muss daher kollaborative Lernprozesse fördern. Studierende können in Gruppenarbeiten, Peer-Learning-Aktivitäten und durch den Einsatz kollaborativer Tools wie z.B. geteilte Dokumente oder virtuelle Whiteboards voneinander lernen und gemeinsam Wissen konstruieren.
5. Professionsgebundenheit
Die Lehre muss den besonderen Anforderungen der Profession der Sozialen Arbeit gerecht werden. Digitale Inhalte und Formate sollten sich eng an berufsethischen, gesellschaftspolitischen und methodischen Themen und Prinzipien orientieren. Die berufliche Identitätsbildung könnte z.B. durch digitale Reflexionsformate gefördert werden, die Studierende dazu anregen, sich kritisch mit den Grundfragen der Profession auseinanderzusetzen.
6. Diskursfähigkeit
Soziale Arbeit agiert oft in gesellschaftlichen und politischen Spannungsfeldern. Die Fähigkeit, sich diskursiv und reflektiert mit kontroversen Themen vor dem Hintergrund des eigenen professionellen Auftrags auseinanderzusetzen, ist daher zentral. Digitale Lehr-Lern-Settings müssen die Fähigkeit fördern, sich kritisch und reflektiert mit beruflichen und gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Z.B. in Online-Diskussionen, Foren und virtuellen Debatten können Studierende lernen Argumente zu entwickeln, Perspektiven zu respektieren und fachlich fundiert zu argumentieren.
7. Interaktivität
Die aktive Beteiligung an Lernprozessen fördert ein tieferes Verständnis von Inhalten und stärkt die eigene Handlungskompetenz. Interaktive Elemente in der digitalen Lehre bereiten Studierende darauf vor, flexibel auf komplexe Situationen in der Praxis zu reagieren. Die digitale Lehre sollte durch interaktive Formate wie z.B. Quizze, Simulationen oder Umfragen die aktive Teilnahme der Studierenden fördern. Solche Elemente unterstützen das Verständnis komplexer Inhalte und ermöglichen eine unmittelbare Rückmeldung zu Lernfortschritten.
8. Reflexivität
Reflexivität ist eine Kernkompetenz der Sozialen Arbeit, da sie die Fähigkeit stärkt, das eigene Handeln und dessen Auswirkungen auf andere kritisch zu hinterfragen. Digitale Formate können diesen Prozess durch strukturierte Reflexionsanlässe fördern. Studierende sollten regelmäßig dazu angeregt werden, ihre eigenen Lernprozesse, Praxiserfahrungen und Einstellungen zu hinterfragen. Digitale Reflexionstagebücher oder Feedbackinstrumente können hierbei z.B. unterstützend wirken.
9. Partizipation
Partizipation ist ein grundlegendes Prinzip der Sozialen Arbeit, da sie die aktive Beteiligung von Individuen an Entscheidungsprozessen und die Mitgestaltung ihres Lebensumfeldes fördert. Für digitale Lehr-Lern-Settings bedeutet dies, dass Studierende nicht nur als passive Empfänger*innen von Wissen agieren, sondern aktiv in den Lehr-Lernprozess eingebunden werden sollten. Partizipation im Lehr-Lern-Prozess kann die Selbstwirksamkeit der Studierenden stärken und die Fähigkeit, Partizipation auch in der Praxis umzusetzen, fördern. Digitale Lernsettings sollten daher Möglichkeiten bieten, dass Studierende Inhalte, Themen oder Methoden mitgestalten können, um die Lehrveranstaltungen individuell und bedürfnisorientiert zu gestalten.
10. Dialog
Dialog ist in der Sozialen Arbeit bedeutsam, da er die Grundlage für den professionellen Austausch mit Nutzenden, Kolleg*innen und anderen Akteur*innen bildet. In der Sozialen Arbeit geht es nicht nur um die Vermittlung von Lösungen, sondern um die gemeinsame Entwicklung von Wegen zur Problemlösung, die die Perspektiven und Bedürfnisse aller Beteiligten einbeziehen. Ein dialogischer Ansatz fördert Verständnis, Vertrauen und die Möglichkeit, verschiedene Sichtweisen produktiv zu integrieren. In digitalen Lehr-Lern-Formaten ist es daher wichtig, Räume für echten Dialog zu schaffen, in denen Studierende ihre Perspektiven teilen, reflektieren und gemeinsam weiterentwickeln können.
11. Beziehungsorientierung
Soziale Arbeit ist beziehungsorientiert, da sie auf vertrauensvolle und unterstützende Beziehungen zwischen Fachkräften und Nutzenden aufbaut. Eine beziehungsorientierte Lehre bereitet Studierende darauf vor, diese Haltung auch in der Praxis zu leben. Digitale Lehr-Lern-Settings sollten daher nicht anonym oder unpersönlich gestaltet sein, sondern die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden sowie zwischen den Studierenden untereinander fördern. Eine wertschätzende, persönliche Kommunikation sowie Formate, die Interaktionen fördern, sind essenziell, um eine unterstützende Lernatmosphäre zu schaffen. Der Aufbau von Lerngemeinschaften, die den sozialen Austausch und die gegenseitige Unterstützung fördern, ist dabei zentral.
12. Inklusion
Inklusion ist ein zentrales Prinzip der Sozialen Arbeit, da sie darauf abzielt, Barrieren abzubauen und die Teilhabe aller Menschen – unabhängig von sozialen, körperlichen oder kulturellen Unterschieden – zu ermöglichen. Soziale Arbeit setzt sich für Chancengleichheit ein und fördert eine Gesellschaft, in der Vielfalt als Ressource anerkannt wird. Digitale Lehr-Lern-Settings müssen diesem Anspruch gerecht werden, indem sie barrierefrei und diversitätssensibel gestaltet werden. Dies umfasst technische Aspekte wie barrierefreie Plattformen oder Untertitelung von Videos sowie didaktische Ansätze, die unterschiedliche Lernbedürfnisse und Hintergründe berücksichtigen. Inklusive digitale Formate vermitteln den Studierenden die Bedeutung von Teilhabe und Vielfalt und bereiten sie darauf vor, diese Prinzipien in ihrer späteren Praxis konsequent umzusetzen.
13. Kritisches Denken
Kritisches Denken ist in der Sozialen Arbeit unverzichtbar, da Fachkräfte immer wieder komplexe soziale Probleme analysieren, hinterfragen und Lösungsansätze entwickeln müssen. Es geht darum, gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse kritisch zu reflektieren und die eigenen Handlungsansätze zu überprüfen. Die digitale Lehre sollte Studierende dazu anregen, kritisch über gesellschaftliche, berufliche und wissenschaftliche Fragen nachzudenken. Der Umgang mit widersprüchlichen Informationen und Perspektiven muss gezielt gefördert werden, um eigenständige Urteilsbildung zu ermöglichen.
14. Ethisches Denken
Die Auseinandersetzung mit ethischen Prinzipien, wie Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit, bildet die Grundlage für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit. Ethische Fragestellungen müssen daher auch integraler Bestandteil digitaler Lehrformate sein. Die Auseinandersetzung mit berufsethischen Prinzipien, Datenschutz und sozialen Gerechtigkeitsfragen im digitalen Raum sollte gezielt gefördert werden. Zugleich stellen sich möglicherweise „neue“ ethische Fragen mit zunehmender Digitalisierung in der Sozialen Arbeit.
15. Innovation
Innovation ist in der Sozialen Arbeit von großer Bedeutung, da sich die gesellschaftlichen Herausforderungen stetig verändern und neue Ansätze erforderlich sind, um darauf zu reagieren. Fachkräfte müssen offen für neues Wissen, neue Methoden und Technologien sein, um passgenaue Lösungen zu entwickeln. Innovative Lehrmethoden bereiten Studierende darauf vor, kreative Lösungen zu entwickeln. Digitale Lehrformate sollten daher innovative Technologien und Methoden einbinden (z.B. Virtual Reality, Gamification oder künstliche Intelligenz). Dadurch können neue Lernzugänge geschaffen und die Kreativität der Studierenden angeregt werden.
16. Employability
Die Soziale Arbeit erfordert nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch spezifische berufliche Kompetenzen, die auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes abgestimmt sind. Dazu gehören etwa Kommunikationsfähigkeiten, Dokumentation, Projektmanagement und die Anwendung digitaler Technologien. Dies beinhaltet insbesondere auch die Förderung von digitalen Kompetenzen, praxisorientierten Fähigkeiten und die Auseinandersetzung mit den Anforderungen der digitalisierten Berufswelt. Digitale Lehr-Lern-Formate bieten die Möglichkeit, praxisrelevante Kompetenzen zu vermitteln, indem sie z.B. Tools und Szenarien einsetzen, die den beruflichen Alltag simulieren.
17. Citizenship
Die digitale Lehre soll Studierende dazu befähigen, aktiv und verantwortungsvoll zur Gestaltung des Sozialen beizutragen. Gesellschaftspolitische Fragestellungen und die Reflexion sozialer Verantwortung im digitalen Raum sollten gezielt gefördert werden, um die Entwicklung einer kritischen Haltung gegenüber sozialen Ungleichheiten zu stärken und Lösungsideen zu entwickeln. Digitale Lehr-Lern-Formate sollten Studierende daher dazu ermutigen, sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Projekte, die auf zivilgesellschaftliches Engagement abzielen, oder Diskussionen zu sozialpolitischen Themen können die Studierenden dazu anregen, ihre Rolle als soziale Akteur*innen kritisch zu reflektieren und aktiv zur Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft beizutragen.